Hld 2,8-15 ist ein sog. "Paraklausithyron" (ein "[Lied]-vor-verschlossener-Tür").
Hintergrund des Paraklausithyrons ist der Topos in der gr. Literatur, dass ein meist betrunkener Liebhaber meist des Nachts und oft mit einer Blumengirlande zur Türe der Geliebten zieht und dort mit einem Lied entweder versucht, sie herauszulocken oder zu ihr hineinzugelangen (deutlich z.B. AG [="Anthologia Graeca"] V 64; 281; AG XII 23; 115; 116; 118; 167). Wird die Türe nicht geöffnet, kann er ein Subgenre des Paraklausithyrons anstimmen: die „Türklage“. Beispiele für diese finden sich z.B. in AG V 23; 103; 145; 189; AG VI 71; auch Theokrits komplette dritte Idylle ist eine solche Türklage. Eine Mischform aus beiden ist auch seine schöne elfte Idylle, in der der Zyklop Polyphem an der „Tür“ der Nymphe Galatea – am Strand nämlich – versucht, die Geliebte zu sich zu locken. Die Parallelen zu Hld 2,8-17 sind so deutlich, dass Ausschnitte wörtlich zitiert seien:
19 O weiße Galatea, warum verwirfst du den Werber? /
Bist weißer als Käse; zärter als ein Lamm!
...
44 Wohliger würdest du die Nacht in der Grotte bei mir verbringen: /
Da sind Lorbeerbäume, dort schlanke Zypressen; /
Dunklen Efeu gibts, süße Früchte tragenden Weinstock gibts, /
Kühlen Quell gibts, der mir gehört, den baumumstandenen Ätna: /
Aus dem weißen Schnee als Ambrosiatrank ausgesandt. /
Wer würde da lieber am Meer festhalten und sich an die Wellen klammern!?
...
54 Ach, dass mich meine Mutter nicht mit Kiemen geboren hat, /
So dass ich zu dir hinuntertauchen und deine Hand küssen könnte /
Wenn du mir schon den Mund vorenthältst! Ich brächte dir die weiße Lilie, /
Den zarten Mohn mit dem roten Blütenblatt!
...
63 Komm heraus, Galatea! Und bist du herausgekommen, vergesse, /
gleich mir nun hier sitzend, wieder nach Hause zu gehen!
Die Forschung befasst sich bei der Auslegung von Hld 2,8-17 überwiegend mit dem Satz von den "Füchsen im Weinberg" in V. 15 und legt beides überwiegend symbolisch aus. Am verbreitetsten: Sprecher des Satzes sind Jungfrauen, für die auch symbolisch die "Weinberge" stehen. Die jungen Füchse dagegen sind Symbole für junge Männer, die den Mädchen Avancen machen, also "die Weinberge verwüsten".
Leichter so: Wir befinden uns in einem Weingarten, der von einem Mädchen bewacht wird (vgl. die komplette Naturschilderung; s. bes. unten zu den "Steinritzen"); die selbe Szenerie also, die auch deutlich in Hld 1,6 geschildert wird.
Vgl. ähnlich im P.Anastasi I 24.2:
Du hast Jaffa erreicht und wirst [...] ein kleines Mädchen finden, das den Garten bewacht [...].
Aus diesem Haus will der Liebende seine Geliebte mit seinem Paraklausithyron herauslocken. Besagtes P. hat zwei sehr deutlich parallel gebaute Strophen: Beide Abschnitte werden eingeleitet mit „Stehe auf, meine Freundin, / Meine Schöne, und komm her!“ (Vv. 10.13); beide schließen mit einer Erwähnung der blühenden Weinberge (V. 13: „Die Weinstöcke haben Blüten gewonnen“; V. 15: „Unsere Weinberge haben Blüten gewonnen“). Wie sich die „Blumen auf dem Land sehen lassen“ (so wörtlich V. 12), will der Liebende den Anblick der Frau sehen (V. 14); wie die Stimme der Turteltaube sich hören lässt (V. 12), will er die Stimme der Frau – seiner „Taube“ – hören (V. 14).
Funktion der Teile der ersten Strophe ist klar: Vv. 10bc: Aufruf zum Herauskommen, Vv. 11-13: Motivierung des Aufrufs. Ebenso beginnt Strophe 2: Vv. 13d-14c: Aufruf zum Herauskommen, Vv. 14de: Motivierung des Aufrufs. Naheliegend wäre es dann, wenn auch V. 15 zu dieser Motivierung des Aufrufs gehörte. Am besten sollte man den Vers also so verstehen: Die Geliebte soll in ihrem Häuschen die Weinberge bewachen (s. gerade). Bewachen soll sie sie u.a. von Füchsen, wie sich das auch in der griechischen Lyrik findet (s.u.). Doch dies ist gar nicht nötig - s.u. zur Analyse von "Fanget uns": Man (impersonaler Plural) hat die Füchse bereits für die Geliebten gefangen; es gibt also überhaupt keinen Grund für die Geliebte, sich weiterhin in ihr Häuschen einzusperren.